Fastenpredigt P. Andreas Batlogg SJ 17.02.2013

Blindheit

„Die Welt ist voller Wunder, keiner sieht sie, unsere Augen sind gehalten“

Predigt vom P. Andreas Batlogg SJ am 1. Fastensonntag, 17. Februar 2013

Anfang Februar, genauer am 2. Februar, waren es 68 Jahre her,
seitdem der Jesuit Alfred Delp hier in Berlin gehängt wurde,
wenige Wochen nach einem Schauprozess.
Neben Pater Delp wurde dabei auch Helmut James Graf von Moltke zum Tod verurteilt.

Hinrichtungen fanden damals in Plötzensee im Zwei-Minuten-Takt statt,
es ging alles zack-zack, mit deutscher Gründlichkeit sozusagen.
Die versagte in einem wesentlichen Punkt:
Nach seiner Hinrichtung wurde Pater Delp verbrannt,
aufgrund eines „direkten Führerbefehls“, wie es hieß,
wurde seine Asche auf den Rieselfeldern verstreut,
die man mit mechanisch gereinigtem Abwasser bewässerte
und wo Gemüse angebaut wurde.
Ein Grab gibt es also nicht.

Nichts sollte an Alfred Delp erinnern.
Niemand mehr sollte von ihm reden, keiner ihn vermissen.
Diese Rechnung der Nationalsozialisten ging nicht auf.
„Für immer ehrlos“ erklärt,
von Roland Freisler, dem Präsidenten des Volksgerichtshofes,
der sich anmaßte, „im Namen des deutschen Volkes“ zu sprechen,
wird Alfred Delp seither geehrt, vermißt, bedacht.

Denkmäler wurden für ihn errichtet,
Straßen, Häuser, Schulen sind nach ihm benannt,
sogar eine Kaserne der Bundeswehr in Donauwörth trägt seinen Namen.
Erinnert wird damit an einen Jesuiten,
der dem NS-Regime trotzte
und zusammen mit anderen aus dem Kreisauer Kreis
über ein Deutschland nach – und das hieß: ohne – Hitler nachdachte.
Das hat ihn sein Leben gekostet.

„Mein Verbrechen ist, dass ich an Deutschland glaubte
auch über eine mögliche Not- und Nachtstunde hinaus“,
schreibt er in einem Brief nach dem 11. Januar 1945,
also bereits nach der Verurteilung,
und er fügt hinzu, dass er dies „als katholischer Christ und als Jesuit“ tue.

Alfred Delps Leben brach jäh ab, im 38. Lebensjahr.
Theoretisch hätte ich ihn noch kennenlernen können,
als ich vor 28 Jahren in den Orden eintrat
– Pater Delp wäre 1985 genau 78 Jahre alt gewesen.
Das ist im Bereich des Möglichen – hätte er nicht den Mund aufgemacht.
Alfred Delp war ein Jesuit, auf den sein Orden heute stolz ist.
Zu seinen Lebzeiten war das nicht so. Er war kein pflegeleichter Jesuit,
kein Angepasster, keiner, mit dem man unbedingt zu tun haben wollte.
Das hing mit seinem Temperament zusammen,
mit seinen Anschauungen, mit seiner Arbeitsweise, mit manchen Gewohnheiten.

Im Gefängnisjargon hatte er keinen Namen.
Er war einfach der Gestapohäftling Nr. 1442.
Zwei Jahre nach seiner Hinrichtung
veröffentlichte der Hamburger Jesuit Paul Bolkovac
Tagebuchfragmente, Meditationen, Reflexionen, Kassiber und Briefe von Alfred Delp:
„geschrieben zwischen Verhaftung und Hinrichtung 1944-1945“,
wie der Untertitel sagt.
Dieses Buch, 184 Seiten stark,
trug den Titel „Im Angesicht des Todes“.
Auszüge davon wurden zuletzt 2008
in der Reihe „Ignatianische Impulse“, Band 21, veröffentlicht.
„Im Angesicht des Todes“ machte Alfred Delp und sein Schicksal
über den engen Kreis von Freunden, Verwandten und Mitbrüdern hinaus
schlagartig bekannt. Man kann sagen: weltweit.
Es ist ein Klassiker geworden, vielfach aufgelegt,
und es wird oft in einem Atemzug genannt mit Dietrich Bonhoeffers
Aufzeichnungen „Widerstand und Ergebung“.

In diesem Buch finden sich Meditationen über „Gestalten der Weihnacht“,
darunter: „Die Hirten“, geschrieben an Weihnachten 1944,
also im Gefängnis, mit gefesselten Händen,
herausgeschmuggelt von beherzten Frauen, die ihn betreuten,
in Erwartung des Prozesses
– eine Zeit des Hoffens und Bangens also,
der Todesangst, der Folter, der Demütigung.
Vielleicht hat Alfred Delp damals auch
gegen die Verzweiflung angeschrieben.
Diese Betrachtungen zu den Hirten enden mit der Bemerkung:
„Die Welt ist voller Wunder,
keiner sieht sie, unsere Augen sind gehalten.“

Gesagt ist das über die Hirten beim Jesuskind,
in der Krippe von Bethlehem:
kein Ort, an dem man ein Neugeborenes wissen möchte.
Hirten: einfache Menschen, keine Akademiker,
keine Theologen, keine Besserwisser, haben ein Baby gesehen.
Aber sie haben mehr erkannt.
Für sie war da nicht nur eine Geburt unterwegs zu sehen.
Sie sahen – und erkannten – auch anderes.

„Es mussten Menschen sein,
deren Seele noch warm wurde bei der Erinnerung an die alten Verheißungen.
Deren Leben also noch weite Horizonte hatte, […]
Es mussten Menschen sein noch des Wunders fähig.
Die gesund und gerad genug waren,
Tatsachen Tatsachen sein zu lassen,
auch wenn die Berechnungen ihrer Tabellen
und die Erfahrungen ihrer Praxis dagegen sprechen.
Das war ihr Geheimnis:
die schlichte Gesundheit des Herzens,
die wache Lebendigkeit der Seele […]
Und das ist zugleich ihre Botschaft an uns.
Dieser Typ fehlt, existiert nicht mehr.
Nicht der Beruf oder die Beschäftigung,
aber der Mensch, die wache Bereitschaft, dem Wunder zu glauben.
Die echte Sehnsucht über sich selbst hinaus.
Die innere Verwandtschaft mit den Sehnsüchten der Menschheit
und den Verheißungen Gottes,
da heraus wächst diese erstaunliche Instinktsicherheit,
die auf das Wunder wartet […].
Der Typ fehlt uns.
Die Welt ist voller Wunder, keiner sieht sie, unsere Augen sind gehalten.“

Die Welt ist voller Wunder, keiner sieht sie, unsere Augen sind gehalten.“
Das ist also der Zusammenhang, in dem das Delp-Zitat steht.
Der Text erschließt sich aus dem Kontext:
Verheißungen … des Wunders fähig …. Sehnsucht über sich selbst hinaus … Instinktsicherheit, die auf das Wunder wartet …
gesund und gerad genug, Tatsachen Tatsachen sein lassen …
Aber eben auch: Wunder sehen können und wollen: auch heute, in dieser Zeit.

Sehen und doch nicht sehen können: geistige Blindheit.
Ein Blindgänger wollte er nicht sein,
konnte er nicht sein: Alfred Delp.
Er konnte und wollte kein Blindgänger, kein Parteigänger sein in einer Zeit,
in der viele gesehen haben und doch nicht wahrhaben wollten, was geschah.
Viele sahen – und schauten weg oder verweigerten sich ihrer Erkenntnis.
Viele haben das getan. Auch in der Kirche.
Alfred Delp gehörte nicht dazu: Er sah, er erkannte, er tat.
Das hat ihn sein Leben gekostet.

Es war eine erzwungene Wandlung, die Alfred Delp
in den Gefängnissen in München, in Berlin-Tegel und zuletzt in Berlin-Plötzensee durchmachte, keine selbstgewählte.
„Delp wird erst im Gefängnis zum Jesuiten,
und das nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Frömmigkeit“,
heißt es in einer neueren Delp-Studie von Andreas Schaller.
Alfred Delp reifte zur religiösen Gestalt heran.

Zur religiösen Gestalt heranreifen:
Auch dazu lädt die Fastenzeit ein.
Sie schärft unsere Sinne: Sie ist eine Einladung,
wieder anders sehen, hören, schmecken, tasten, riechen zu lernen.
„Think with the senses, feel with the mind“
– das stieß mir vor kurzem beim Frühstück auf einer Klausur am Starnberger See ins Auge: Denk mit den Sinnen / fühle mit dem Verstand.Unsere Sinne sind auch Erkenntnisorgane!
Blindheit – das ist nicht nur ein organisches Problem,
eine Erkrankung, ein Handicap.
Blindheit im übertragenen Sinn
kann die Weigerung der Wahrnehmung sein:
die Verweigerung, Dingen ins Auge zu sehen,
erst recht solchen, die unangenehm sind,
Die Fastenzeit lädt dazu ein,
sensibler zu werden für die Wochen und Monate danach,
eine Art innerer Revision zu wagen;
dazu gehört das Sehen und das neue Sehen.
„Omnia quod recipitur, ad modum recipientis recipitur“,
sagten die alten Scholastiker: Alles, was wahrgenommen wird,
wird so wahrgenommen, wie es dem Empfänger möglich ist.
heute spricht man von selektiver Wahrnehmung:
Wir nehmen die Dinge wahr, wir sehen sie so,
wie wir sie wahrnehmen bzw. sehen können („ad modum recepientis recipitur“).

Das heißt: Wir können ausblenden, verdrängen,
aus dem Gesichtskreis verbannen.
Das haben z. B. auch Jesuiten getan, jahrelang,
in einem anderen Zusammenhang, im Canisiuskolleg.
Schlimme Dinge gibt’s nicht bei uns:,
Das mag ein Motiv für das Nicht-Hinsehen gewesen sein, das nicht genau genug Hinsehen. Aus der Sicht der Täter vielleicht verständlich: Ruf, Image, Reputation.
Aus der Sicht der Opfer fatal.
Unsere Augen sind gehalten!

Und was sind die „Wunder“ heute?
Das können wir durchbuchstabieren!
Alfred Delps Widerstand kam aus dem Glauben,
einem Glauben, der nicht beruhigt, nicht einschläfert, nicht sediert;
einem Glauben, der hellwach macht – kritisch im ignatianischen Sinn.
Das ist übrigens: „Unterscheidung der Geister“!

Alfred Delps Lebenszeugnis
und noch sein Zeugnis im Sterben laden dazu ein,
heute zu fragen, wo wir mit Blindheit geschlagen sind,
wo wir lieber die Augen verschließen vor der Realität, wo wir uns blind stellen.

Sehen können und sehen wollen,
den Durchblick haben, auch dort, wo es unangenehm ist
– das könnte ein Wunsch sein für diese kommenden Wochen,
Bußzeit genannt im konventionellen spirituellen Jargon.
Das ließe sich von Alfred Delp lernen.
Haben wir doch den Mut dazu, nicht nur zu wissen,
Bescheid zu wissen, auch nicht religiös,
sondern zu lernen. Lernen zu wollen
– das ist schon viel, unabhängig davon ob es auch gelingt.
Die kommenden fünf Wochen sind eine Chance und eine Einladung dazu.

Amen.

P. Andreas Batlogg SJ
ist Chefredakteur der Zeitschrift
für christliche Kultur “Stimmen der Zeit” 

 

Bücher zum Thema | erhältlich in der Buchhandlung   Der Kloster Laden
• Alfred Delp, Im Angesicht des Todes – Ignatianische Impulse, Echter
• Alfred Delp, Worte der Hoffnung, Echter
• Andreas Schaller: Lass dich los zu deinem Gott, Eine theologische Studie zur Anthropologie von Alfred Delp, Herder
CD “Im Angesicht des Todes” mit ausgewählten Texten
DVD “Alfred Delp – Jesuit im Widerstand”

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