Eucharistie ist communio, Gemeinschaft
mit Christus und untereinander
Hirtenbrief des Erzbischofs von Berlin, Rainer Maria Kardinal Woelki, zur Fastenzeit 2013
Liebe Schwestern und Brüder,
Ärzte heilen, Ingenieure bauen, Bäcker backen … Doch was zeichnet uns Christen aus? In einer seiner Predigten nennt der Heilige Vater, Papst Benedikt XVI., ein eindrückliches Beispiel: Im Jahr 304 verbot der Kaiser Diokletian den Christen unter Todesstrafe, „die Heilige Schrift zu besitzen, am Sonntag zur Feier der Eucharistie zusammenzukommen und Räume für ihre Versammlungen zu errichten. In Abitene, einem kleinen Dorf im heutigen Tunesien, wurden eines Sonntags 49 Christen, die im Haus des Octavius Felix zusammengekommen waren, überrascht, als sie die Eucharistie feierten und sich damit den kaiserlichen Verboten widersetzten. Sie wurden festgenommen und nach Karthago gebracht, um von Prokonsul Anulinus verhört zu werden. Bedeutsam war unter anderem die Antwort eines gewissen Emeritus an den Prokonsul, der ihn fragte, warum sie dem strengen Befehl des Kaisers zuwidergehandelt hätten. Er antwortete: ‚Sine dominico non possumus‘. Das bedeutet: Ohne uns am Sonntag zur Feier der Eucharistie zu versammeln, können wir nicht leben. Es würden uns die Kräfte fehlen, uns den täglichen Schwierigkeiten zu stellen und nicht zu unterliegen. Nach grausamer Folter wurden diese 49 Märtyrer von Abitene getötet. So bezeugten sie mit dem Vergießen ihres Blutes ihren Glauben.“ (Papst Benedikt XVI., Predigt am 29. Mai 2005).
Eine geradezu unglaubliche Geschichte! Die Christen sind damals bereit, ihr Leben zu riskieren, um an der Feier der Eucharistie teilzunehmen. Sie bezeugen mit ihrem eigenen Leben, dass die Heilige Messe „Quelle und Höhepunkt“ des christlichen und kirchlichen Lebens ist, wie es das II. Vatikanische Konzil schon vor 50 Jahren so nachdrücklich unterstrichen hat (Kirchenkonstitution Lumen Gentium Nr. 11). Auch in unserem Erzbistum haben Christen in der Vergangenheit – unter der Herrschaft zweier totalitärer und gottvergessener Systeme – bezeugt: „Ohne uns am Sonntag zur Feier der Eucharistie zu versammeln, können wir nicht leben“. Und auch sie waren bereit, Unterdrückung und Nachteile, manchmal bis zum Tod, in Kauf zu nehmen. Wenn wir in diesem Jahr bei uns in Berlin den 50. Weihetag von Maria Regina Martyrum, der Gedenkkirche der deutschen Katholiken für die Opfer des Nationalsozialismus, feiern dürfen, werden wir eindrucksvoll an ein solches Zeugnis erinnert.
Welchen Stellenwert hat die Eucharistie nun aber im Leben einer jeden und eines jeden von uns? Ich lade Sie ein, dass wir uns gemeinsam dieser Frage in der diesjährigen Fastenzeit nähern. Das „Jahr des Glaubens“, das unser Heiliger Vater für die Weltkirche ausgerufen hat, der bevorstehende nationale Eucharistische Kongress, aber auch der in unserem Erzbistum begonnene geistliche Weg „Wo Glauben Raum gewinnt“ sind dafür drei gute Anlässe. „Ohne uns am Sonntag zur Feier der Eucharistie zu versammeln, können wir nicht leben.“ – Gilt das auch für uns Christen im 21. Jahrhundert? Manche Zweifel kommen auf. Nicht wenige neigen doch der Annahme zu, das Verhalten der Christen in Abitene sei verrückt gewesen, ein sinnloses Unterfangen, bestenfalls eine Dummheit. Ich danke Gott, dass wir uns in unserem Land nicht in einer Zeit der Christenverfolgung befinden und uns auch kein totalitäres System zwingt, für die Feier der heiligen Eucharistie am Sonntag „aufs Ganze“ gehen zu müssen. Niemand hat uns heute diese Feier verboten oder erschwert.
Doch auch wenn unsere Lage ganz anders ist, haben auch wir es heute nicht unbedingt immer einfacher als die Christen damals: In einer weitgehend säkularisierten Umwelt hat Gott vielfach keinen Platz mehr. Gott ist nicht mehr so einfach wahrnehmbar und damit erfahrbar. Und dadurch drängt sich der Eindruck auf, dass auch die Sehnsucht nach ihm in den Herzen der Menschen schwindet. Die Welt bietet doch so viele Möglichkeiten und so viel Abwechslung. Da fällt es schwer, das Wichtige und Wesentliche im Blick zu behalten. Gleichzeitig verführen die Hektik und die Belastungen der Woche dazu, in der Feier der Eucharistie nur eine weitere lästige Pflicht zu sehen, einen von zahllosen Terminen: 585 Minuten täglich verbringen wir durchschnittlich mit Fernsehen, Internet, Smartphone und ähnlichen Dingen, 40 Minuten täglich für das soziale Leben mit Verwandten, Freunden und Bekannten. Sind da 60 Minuten pro Woche für Gott und die Feier der heiligen Eucharistie zu viel?
Vielleicht denken manche aber auch: „Die Eucharistie kostet nichts. Und was nichts kostet, kann das überhaupt von Wert sein?“ Daraus kann durchaus der Druck erwachsen, auch den Sonntag ökonomisch verwerten zu wollen. „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ (1 Kor 11, 24), so lautet Jesu Auftrag. Immerhin kostet die Eucharistie den Herrn das Leben! „Das ist mein Leib für euch“, sagt er (ebd.). Das bin ich für euch. Dieses „für euch“ hat der Herr nicht halbherzig einfach so daher gesagt. Er ist auch nicht auf halbem Wege stehen geblieben, sondern für uns bis ans Ende gegangen, bis in den Tod am Kreuz. Was er uns also unter der Gestalt des Brotes zur Speise gibt, ist sein am Kreuz dahingegebener Leib. Und im Kelch reicht er uns sein am Kreuz vergossenes Blut. Hingabe und damit Liebe für uns und zu uns bis in den Tod. Darum ging es Jesus in seinem Leben. Darauf zu antworten sind wir herausgefordert. Liebe aber kann immer nur mit Liebe beantwortet werden.
Die Eucharistie ist insofern Zeichen seiner und unserer Liebe. Vor allem aber ist sie Begegnung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Sie ist Begegnung mit dem lebendigen Herrn! (vgl. Lk 24, 13-25) Das ist das eigentliche Geheimnis, welches wir sonntäglich in jeder Eucharistie begehen und für das wir Gott preisen und danken. Hier können wir IHM im Altarsakrament persönlich begegnen. Der Herr möchte hier sein Leben mit uns teilen. Er möchte in der Heiligen Messe mit jedem von uns communio, also Gemeinschaft, haben. Er lädt uns dazu ein. Und weil wir in der Eucharistie communio mit ihm haben können, können wir auch untereinander communio haben, wie der Apostel Paulus unterstreicht: „Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib, denn wir alle haben teil an dem einen Brot“ (1 Kor 10, 17). Und die große Heilige Teresa von Avila bemerkt: „Gott gibt uns schon in diesem Leben hundert für eins“ (Libro de vida 22, 15). Wir bringen die eine Gabe aus Brot und Wein, und Gott schenkt uns dafür hundertfach seine Gegenwart. Aus dem einen Leib werden wir alle gespeist.
In der Eucharistie schlägt somit das Herz der Kirche. Ohne Eucharistie ist Kirche nicht möglich. Ohne Eucharistie wird eine christliche Lebensweise sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, denn in der Eucharistie begegnen wir ja – wie gesagt – dem lebendigen und auferstandenen Herrn. Und ein lebendiger Glaube bedarf dieser Begegnung, um lebendig zu bleiben, so wie auch jede zwischenmenschliche Beziehung des Kontakts und des Austauschs bedarf, um lebendig zu sein. „Die Kirche lebt aus der Eucharistie“ schrieb deswegen der Selige Papst Johannes Paul II. (Enzyklika Ecclesia de Eucharistia, Nr. 1). Die Eucharistie IST communio mit Christus. Communio mit Christus ermöglicht communio untereinander: Eucharistische Gemeinschaft IST kirchliche Gemeinschaft. Eucharistie und Kirche werden somit deckungsgleich. Das bildet die Sinnmitte der Kirche. In der Eucharistie schlägt das Herz der Kirche. Es kann daher durch kein „Organ“ ersetzt werden – weder durch ein anderes noch durch ein künstliches. Jeder Christ, der nicht die lebendige Gegenwart des Herrn in der Eucharistie sucht, der nicht diese brennende Sehnsucht nach einer persönlichen Begegnung mit Christus verspürt (vgl. Lk 24, 32), läuft Gefahr, dass sein Glauben an Dynamik, an Lebenskraft, an Strahlkraft einbüßt.
Die Feier der Eucharistie ist deshalb auch nicht so etwas wie eine Vereinsversammlung. Sie ist kein Happening, kein Event. Sie ist die communio, die Gemeinschaft mit dem Herrn selbst. Deswegen ist es auch überall ein und dieselbe Eucharistie, die der Priester feiert: in Marzahn wie in Dahlem, in Frankfurt an der Oder wie auf Usedom, in Berlin genauso wie in New York oder in Sidney. Die konkrete Ortskirche ist so eingebunden in die eine universale Kirche. Damit wird sakramental sichtbar, wie es uns der Herr ermöglicht, dass wir die Grenzen auf den Anderen hin überschreiten können. Die Versammlung der Fremden wird zur communio, zur Gemeinschaft der Freunde Jesu Christi. Das wird auch in einer sich verändernden Kirche Folgen zeitigen. Wenn wir es erreichen wollen, dass auch künftig alle Christen in unserem Erzbistum an einer sonntäglichen Eucharistiefeier teilnehmen können, müssen wir offen sein für Veränderungen. Wir müssen geschwisterlich aufeinander zugehen, Grenzen von Pfarreien und Gemeinden überschreiten. Es ist der Herr selber, der die verstreuten Christen in der Eucharistie sammelt, damit sie eine Einheit bilden, die sichtbare Einheit der kirchlichen communio, seinen mystischen Leib. Er ruft uns, er sammelt uns und er sendet uns auch in unseren Alltag hinaus. Er fordert von uns nicht dasselbe Risiko, welches die Christen in Abitene eingegangen sind. Aber er fordert uns auf, aufeinander zuzugehen und zusätzliche Anstrengungen zu unternehmen, um an einer sonntäglichen Heiligen Messe teilzunehmen.
Die Eucharistie hält uns somit wach für Gott, für Jesus Christus und für die anderen. Kirche und Christsein enden deshalb auch nicht am Eingangsportal unserer Kirche. Sie sind keine Kostümierung, die wir abstreifen, sobald wir in unseren Alltag zurückkehren, wo das „wirkliche“ Leben beginnt. Nein, was sich in der Eucharistie ereignet und uns in unserem Inneren erfasst, möchte auf unserem Gesicht sichtbar werden. So ist jeder Christ dazu berufen, zu einem Ebenbild Christi zu werden, in dem sich das Göttliche im Geschöpflichen widerspiegelt. Aus dieser Offenheit Christi für uns ergibt sich die Einladung zu einer offenen Haltung für Gott, für unsere Mitchristen über Pfarr- und Gemeindegrenzen hinweg und auch für diejenigen, die Gott suchen und ihn noch nicht gefunden haben. Diese Offenheit darf ganz konkret werden. Wir dürfen uns beispielsweise fragen, wie wir es in unseren Gemeinden und Pfarreien ermöglichen, dass auch ältere Christen in Zukunft an der sonntäglichen Eucharistie teilnehmen können. Wissen wir überhaupt um diese Mitchristen? Und welche Anstrengungen unternehmen wir, damit die Kinder und Jugendlichen die Eucharistie auch für sich als Lebens- und Glaubensquelle entdecken und so in der Gemeinschaft mit Christus und mit der Kirche wachsen können? Der Sonntag bietet noch genügend Stunden für all die anderen schönen Dinge, die sich an ihm unternehmen lassen!
Wenn der Herr davon spricht, dass er das „lebendige Himmelsbrot“ (Joh 6, 51) ist, das neue Manna, dann können wir so auch die Worte von Bischof Klaus Hemmerle deuten: „Was vom Himmel fällt, muss aus der Erde wachsen“. Die Eucharistie stärkt uns und unsere kirchliche communio, denn sie ist eine wirkliche Speise und ein wirklicher Trank. Indem sie uns verwandelt, verwandelt sie auch die Schöpfung, befähigt sie uns die Welt zu verwandeln. Das Geheimnis der Eucharistie wird somit nicht zu einer Feierabendfeier, sondern zum Beginn eines Abenteuers mit Jesus Christus im Alltag, zu einem Aufbruch in ein neues und volles Leben schon jetzt hier auf Erden, auch wenn die Vollendung noch aussteht. Damit hören die Alltagssorgen nicht auf, doch wir bekommen ein Fundament, das in diesen Sorgen zu tragen vermag: Gottes Gegenwart, in der wir unsere Probleme bewältigen können. Wenn wir die Einladung zur Gemeinschaft mit Gott annehmen, dann kann unser Glauben wachsen. Gott ist dann nicht fern und groß, sondern nah und überraschend klein, so klein, dass er sich in einer kleinen gewandelten Hostie in unsere Hände begibt.
Liebe Schwestern und Brüder, so wollen uns die vor uns liegenden Tage der österlichen Bußzeit helfen, für uns und für unseren Glauben das Geschenk der Eucharistie neu zu entdecken und zu vertiefen, damit wir auf unserem Weg durch die Zeit in der communio mit dem lebendigen Herrn frohen Mutes und offenen Herzens in Glaube, Hoffnung und Liebe ihm entgegen gehen.
Mit den besten Segenswünschen für eine an Gnaden reiche Vorbereitung auf das Osterfest
Berlin, am 1. Fastensonntag 2013
Ihr
Rainer Maria Kardinal Woelki
Erzbischof von Berlin