Predigt von Superintendent Carsten Bolz am 27. Januar 2013
Am Holocaustgedenktag wurden aus beiden Plötzenseer Kirchen die Sonntagsgottesdienste live im Radio übertragen. Was zuerst ein Zufall der Planung war, war dann doch eine Fügung. Sowohl die evangelische Gedenkkirche Plötzensee als auch die Gedenkkirche der deutschen Katholiken konnten an diesem bedeutenden Tag in einer großen Öffentlichkeit auf ihr gemeinsames Engagement als Orte der Erinnerung und Mahnung aufmerksam machen.
Wir dokumentieren hier die Predigt von Superintendent Carsten Bolz in der Gottesdienstübertragung im Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB).
Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde, haben Sie schon einmal ein Ziel verfehlt? Daneben geworfen beim Büchsenwerfen vielleicht oder nicht ins Schwarze getroffen auf dem Rummel? Nicht am Ziel angekommen – trotz Navi oder Landkarte? Das nicht geschafft, was Sie sich für ein neues Jahr vorgenommen hatten… Irgendwie ging das uns allen vermutlich schon einmal so: das Ziel verfehlt!
Das Evangelium dieses Sonntags (Matthäus 9, 9-13) ist eine Geschichte von und für Menschen, die das Ziel verfehlt haben. In den Augen der Pharisäer zur Zeit Jesu nämlich waren Zöllner solche Menschen. Nicht etwa weil sie nicht genug Zoll einnahmen und dadurch ihr Ziel verfehlten – ganz im Gegenteil: In den Augen der Pharisäer verfehlten sie ihr Ziel, weil sie nur ihren eigenen Vorteil suchten und darüber Gottes Gebote und die Lage ihrer Mitmenschen ganz aus dem Blick verloren. Dadurch verfehlten sie das Ziel, das Gott den Menschen steckt. Sie waren nicht gut angesehen in Israel.
Jesus aber – so berichten es die Evangelien in großer Übereinstimmung – Jesus gibt sich gerade mit diesen ab. Er setzt sich mit denen an einen Tisch, die das Ziel verfehlt haben – weil die ihn nach Einschätzung der Evangelisten besonders nötig hatten. „Sünder“ nennt sie die Bibel, seit Martin Luther das so übersetzt hat. „Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“
In der Sprache der Bibel reden wir immer wieder einmal von „Sündern“ – und gleichzeitig ist das für viele heute zu einem schwierigen Wort geworden: zu schlüpfrig sind manche Assoziationen oder zu banal. Mir hilft der Blick auf die Herkunft dieses Wortes, es besser zu verstehen. „Sünder“ – das sind Menschen, so meint es das griechische Wort, die ein Ziel verfehlt haben. Auch wir reden ja von „Verfehlungen“ bei Menschen, wenn sie sich falsch verhalten. Mit solchen Menschen gibt Jesus sich ab – mit Menschen, die das Ziel verfehlt haben.
Welches Ziel haben sie verfehlt? Sicher nicht das Ziel auf der Landkarte oder ein paar Pfunde weniger im neuen Jahr! Gemeint ist das Ziel, das Gott uns Menschen setzt. Schon die Propheten in Israel haben es gekannt – Matthäus zitiert es hier: Barmherzigkeit heißt das Ziel – nicht Opfer! In der Tischgemeinschaft kann dieses Ziel Wirklichkeit werden. Aber es ist nicht leicht zu erreichen, muss offenbar immer wieder gelernt werden: „Geht hin und lernt, was es heißt: – Gott gefällt Barmherzigkeit – nicht Opfer!“
Heute allerdings, liebe Gemeinde, denken wir vor allen Dingen an verfehlte Ziele, an Opfer – und an wenig Barmherzigkeit.
Heute, an diesem Holocaustgedenktag, liebe Gemeinde, denken wir vor allen Dingen an verfehlte Ziele und an die Opfer, die sie gekostet haben. Wir müssen bekennen: Viele unserer Landleute haben das von Gott gesetzte Ziel in jenen Tagen verfehlt – selbst Christen, die in der Nachfolge Jesu standen. Offenbar hatten auch viele der Nachfolger Jesu nicht ausreichend gelernt, was das Ziel ist und wie das Ziel zu erreichen wäre. Sie haben Opfer in Kauf genommen, wo sie sich um Barmherzigkeit hätten bemühen müssen. Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu sind mit schuldig geworden vor allem am jüdischen Volk aber auch an anderen Menschen, die der Menschenfeindlichkeit der Regierenden ausgeliefert waren. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis haben das Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland im Oktober 1945 so formuliert:
„Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. […] wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“
Seit vielen Jahren erinnern wir hier im Charlottenburger Norden mit den Verfehlungen, denen unvorstellbar viele Menschen zum Opfer fielen – aber auch an die Menschen, denen das Ziel klar vor Augen stand. Denn die gab es ja auch, die mit ihren Mitteln versucht haben, Widerstand zu leisten, Gottes Menschenfreundlichkeit allen Menschen zuteil werden zu lassen. Viel zu lange hat es nach 1945 gebraucht, bis Menschen aus dem kirchlichen Widerstand wie Dietrich Bonhoeffer oder Elisabeth Schmitz die Anerkennung zuteil wurde, die sie verdienten. Ihr und anderer Gedenken soll hier in diesem Ökumenischen Gedenkzentrum lebendig bleiben. In einzigartiger Weise erlebe ich hier, wie das ökumenisch-gemeinsame Gedenken dazu hilft, besser zu lernen, was es auch heute heißen kann, Barmherzigkeit zu üben und Opfer zu verhindern. Wir lernen das auch aus der engen ökumenischen Freundschaft in den Gefängnissen damals, wie sie beispielsweise zwischen dem evangelischen Gutsbesitzer Helmuth James von Moltke und dem katholischen Jesuitenpater Alfred Delp entstanden war.
Sie hätten im Gefängnis nicht so direkt miteinander kommunizieren können, wenn nicht der Gefängnispfarrer Harald Poelchau sie dabei unterstützt hätte. Auch der hatte sehr früh verstanden, was es bedeutet, Barmherzigkeit zu üben in einer Welt, die so viele Opfer produzierte. Sein Geburtstag jährt sich in diesem Jahr zum 110. Mal – vor 40 Jahren ist er gestorben – gerade als er mit seiner Frau als „Gerechte der Völker“ in Israel geehrt worden war. Er war so einer, der sich offenbar von dem Ziel nicht abbringen ließ. Als Gefängnispfarrer in jener Zeit war er Mitarbeiter im Justizministerium und schaffte es dennoch immer wieder Informationen von und für Gefangene von drinnen nach draußen zu bringen und umgekehrt. Das war natürlich illegal. Er hat damit die Kontakte der Mitglieder des Kreisauer Kreises aus dem Gefängnis nach draußen überhaupt erst ermöglicht. Und er hat Menschen wie Helmuth James von Moltke, Alfred Delp oder Eugen Gerstenmaier eine unvergleichliche Tischgemeinschaft ermöglicht, indem er Brot und Wein für sie mit ins Gefängnis schmuggelte – daran erinnern auch die Tafeln des Plötzenseer Totentanzes hier in der Kirche. Und als wäre das alles noch nicht genug hat Poelchau mit seiner Frau in der Weddinger Wohnung untergetauchte Jüdinnen und Juden versteckt. Für mich ist ganz klar: so einer wie Harald Poelchau hat – um im Bild zu bleiben – voll ins Schwarze getroffen, hat das Ziel nicht verfehlt, hat mit dazu beigetragen, dass Gottes Barmherzigkeit unter den Menschen erfahrbar wurde. Wenn ich heute also der Opfer gedenke, dann gedenke ich auch der Barmherzigkeit, die Menschen wie Harald Poelchau geübt haben.
Wenn ich heute der Opfer gedenke, liebe Gemeinde, dann kann ich – Gott sei Dank – auch der Barmherzigkeit gedenken, die Menschen wie Harald Poelchau geübt haben. Diese Form des Gedenkens haben wir uns hier im Ökumenischen Gedenkzentrum Plötzensee zur Aufgabe gemacht. Damit weitet sich der Blick notwendig auch in unsere Gegenwart hinein. Denn die Zielfindung in der Gegenwart muss doch das Ziel allen Erinnerns der Vergangenheit sein. Immer noch sehe ich aber Menschen – auch unter uns – die das Ziel verfehlen, die sich leichthin menschenfeindliche Argumentationen zu eigen machen oder Schuld klein reden wollen. Mit Schrecken mussten wir erleben, wie antisemitische Gewalt immer noch möglich ist – oft auch unter Jugendlichen – oft unter Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund.
Hier sehe ich eine andauernde Aufgabe für uns – besonders auch in unseren Gemeinden. „Geht hin und lernt, was es heißt: – Gott gefällt Barmherzigkeit – nicht Opfer!“ – geht hin und lernt! – beschäftigt euch mit eurer Vergangenheit und lernt daraus Barmherzigkeit – mit euch – mit anderen – mit allen!
Aus dieser Motivation heraus ist hier im Jugendcafé direkt unter dieser Gedenkkirche vor drei Jahren das Theaterprojekt „Vergessene Biografien“ entstanden. Theaterpädagoginnen und Sozialarbeiterinnen hatten sich vorgenommen, sich mit Jugendlichen aus der Gegend, die zumeist selber einen Migrationshintergrund haben, der deutschen Geschichte zu stellen. Sie wollten herausfinden, was diese mit ihnen zu tun hat – die sie sich meist zwischen mehreren Kulturen zu Hause fühlen. „In dem dokumentarischen Theaterstück „Vergessene Biografien“ erzählen sie nun die selbst recherchierten Geschichten von Migranten und Schwarzen Deutschen im Nationalsozialismus. Exemplarisch stellen sie die Lebensgeschichte eines türkischen Juden im Untergrund und eines afro-deutschen Mädchens bei der Zwangsarbeit dar.“ Erstaunliche Erkenntnisse haben sie dabei gewonnen.
„In Berlin lebten vor dem Zweiten Weltkrieg mehrere Hundert türkische Juden, von denen die meisten deportiert und ermordet wurden. Europaweit belaufen sich die Zahlen auf mehrere Zenhtausend. […] Schätzungen gehen weiter von mehreren Tausend Schwarzen Menschen aus, die in den Konzentrationslagern umgekommen sind. Viele Afro-Deutsche Kinder sind in einer illegalen Geheimaktion sterilisiert worden. Wenige dieser Lebenswege gelangten überhaupt an die Öffentlichkeit. Viele Schicksale sind bis heute ungeklärt und die Lebensgeschichten von Frauen scheinen geradezu unsichtbar. Von vielen dieser Menschen existiert nicht einmal mehr ein Bild. Oft bleibt nur noch ein Name. Es sind „Vergessene Biografien“.
Die Zielfindung in der Gegenwart muss das Ziel allen Erinnerns der Vergangenheit sein. So, liebe Gemeinde, verstehe ich den Auftrag Jesu – dass wir uns aufmachen, dem Vergessen wehren und mit den Verschiedenen lernen, wie wir das Ziel erreichen können, das Gott uns setzt: Barmherzigkeit – nicht Opfer! Und wenn wir versuchen, dieses Ziel nicht zu verfehlen, dann dürfen wir auch sicher sein, dass Gott uns dabei barmherzig zur Seite sein und uns mit all unseren Verfehlungen tragen will – denn wir müssen dabei gerade nicht auf unsere Gerechtigkeit vertrauen, sondern auf Gottes große Barmherzigkeit. Gehen wir also hin und lernen weiter im Vertrauen auf Gottes Zusage, von der Jochen Klepper gedichtet hat: „Ja, ich will euch tragen bis zum Alter hin. Und ihr sollt einst sagen, dass ich gnädig bin!“
Amen.