Predigt von P. Tobias Zimmermann SJ

Predigt von P. Tobias Zimmermann SJ am 27. Januar 2013

Das Ökumenische Gedenkzentrum Plötzensee hatte sie in das Programm der “Ökumenischen Plötzenseer Tage” aufgenommen: die Radio-Gottesdienste der beiden Gedenkkirchen. An diesem Holocaustgedenktag wurde so die Aufmerksamkeit einer großen Öffentlichkeit auf das gemeinsame Engagement als Orte der Erinnerung und Mahnung gerichtet. Der Gottesdienst aus der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum war auch das jährliche Gedenken der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) für den sl. Nikolaus Groß.

Wir dokumentieren hier die Predigt von P. Tobias Zimmermann SJ in der Gottesdienstübertragung im Deutschlandfunk.

Liebe Schwestern und Brüder,

vor kurzem bin ich in eine Debatte über Märtyrer verwickelt worden: „Warum braucht Ihr Katholiken eigentlich immer Eure Heldenverehrung?“, sagte da jemand. Wir hatten über den Jesuiten Pater Alfred Delp geredet. Ihm war in der Todeszelle angeboten worden, er müsse nur seinen Orden verlassen, dann würde man ihn verschonen. Er lehnte ab. Mein Diskussionspartner meinte, welchen Wert es denn habe, zu sterben. Er würde das Angebot annehmen und dann lieber als guter Mensch weiter leben. Tatsächlich haben in den beiden deutschen Diktaturen des letzten Jahrhunderts viele Menschen sich mit den Machthabern arrangieren müssen, ohne damit gleich zu Kollaborateuren zu werden. Wir, die wir in sicheren Verhältnissen leben, sind die letzten, die darüber urteilen sollten. Was hätte mein Gesprächspartner erst zum Tod eines Nikolaus Groß gesagt, eines Vaters von sieben Kindern? Es war bewegend, wie sich dann ein Opfer der DDR Diktatur in das Gespräch einklinkte. Er sei lange im Gefängnis gewesen, sei misshandelt worden und habe auch diese Art Angebote bekommen. Irgendwann aber sei es einfach auch darum gegangen, sich selbst und seinen Überzeugungen treu zu bleiben und damit seine Würde zu wahren. Das habe dann – von innen betrachtet – gar nicht mehr so viel mit Heldenmut zu tun gehabt – es ging einfach nicht anders, wenn man sich selbst nicht aufgeben wollte.

P. Tobias Zimmermann SJ

Es geht also im Martyrium erst einmal nicht um einen Heldentod, sondern darum, dass menschenwürdiges Leben mehr ist als das reine Überleben. Es geht darum, seine Würde gegen die Mächte der Unmenschlichkeit zu bewahren, und so zum Zeugen menschlicher Würde und Freiheit überhaupt zu werden. Liebe Schwestern und Brüder, insofern hat das Zeugnis von Nikolaus Groß viel früher begonnen, bereits in seiner Zeit als Gewerkschafter. Denn die Zerstörung der Würde und Freiheit der Menschen beginnt nicht da, wo offensichtliche physische Gewalt ausgeübt wird. Es ist Gewalt, wenn Wenige ihre gesellschaftliche Macht, ihr Geld, die Herrschaft über die Produktionsmittel dafür einsetzen, ihre Privilegien zu wahren, und dabei Anderen den Zugang zu einer menschenwürdigen Grundversorgung, zu gleichen Chancen in der Bildung und zur Teilhabe an der Gesellschaft versperren.

Insofern fragt uns das Martyrium des Gewerkschafters Nikolaus Groß an, wo wir uns einsetzen, wo wir aufstehen aus den Sesseln der gleichmütigen Zuschauer? Bedeutet es uns etwas, wenn auch bei uns die Schere zwischen reich und arm immer weiter auf geht? Ändern wir unsere Angewohnheiten, wenn derzeit globale Hungerkatastrophen drohen, weil ein Drittel unserer Getreideproduktion inzwischen als Futtermittel dient, damit unser ungebremster Hunger auf Fleisch Nachschub hat? Lassen uns die Arbeitslosigkeit und Perspektivenlosigkeit einer ganzen europäischen Jugendgeneration kalt, weil wir Solidarität im Zweifel dann doch nur auf Deutsch buchstabieren wollen? Liebe Schwestern und Brüder, Delp hatte sein Martyrium und das seiner Gefährten einmal so charakterisiert. „Wir sterben, damit andere einmal besser leben!“ Die Großzügigkeit und die aufrechte Würde dieser Männer, die sich in mitten des Terrors die Freiheit nahmen, sich für einen menschenwürdigen Neuanfang einzusetzen, sie fragen uns mit Ihrem Zeugnis, was wir daraus gemacht haben: Wofür lebt Ihr, damit andere einmal besser leben?

Im Martyrium des Nikolaus Groß geht es zweitens um die Veränderung der Gesellschaft durch Bildung: Entschiedener und viel früher als die ebenfalls auf christlichen Fundamenten stehende Zentrumspartei wendete sich die Katholische Arbeiterbewegung unter ihren Sekretären Letterhaus und Groß gegen jede Form der Vereinnahmung des Einzelnen, seiner Würde und seiner Freiheit durch die sogenannte Klasse oder die Rasse. Die Situation der Arbeiterschaft sollte geändert werden, aber nicht von außen an der Freiheit und der Würde des Einzelnen vorbei.

Nikolaus Groß, dem Sohn eines einfachen Werk – Schmiedes, der selbst schon in frühester Jugend in den Bergbau ging, stand nicht an der Wiege geschrieben, dass er einmal einflussreicher Redakteur und politischer Führer der Arbeitnehmerschaft sein würde. Trotz eines gesundheitlichen Handicaps nahm er den nur mit äußerster Disziplin zu bewältigenden Weg auf sich, gleichzeitig zu arbeiten, sich fort zu bilden, sich für die Interessen der Arbeiter politisch zu engagieren und einer siebenköpfigen Familie nicht nur der Ernährer, sondern offenbar auch ein sehr präsenter und aufmerksamer Vater zu sein.

Kein Wunder, dass dieser Mann nicht nur das Rückgrat hatte, die katholische Arbeitnehmerschaft durch die gewalttätigen Zeiten der späten Weimarer Republik zu führen, sondern sich als Redakteur der Westdeutschen Arbeiterzeitung auch von Anfang an mutig gegen den Nationalsozialismus zu positionieren.

Liebe Schwestern und Brüder, die Biographie von Nikolaus Groß verwirklicht exemplarisch die Prinzipien der katholischen Soziallehre: Der Mensch selbst muss durch Bildung zur gesellschaftlichen Teilhabe ermächtigt werden. Der Mensch darf sich nicht sich zum Wohlfahrtsempfänger reduzieren lassen. Seine Würde gebietet, dass er selbst mit seinen Zielen, seinen Kräften und Fähigkeiten einbezogen und gefördert werden muss. Hier zeigt sich die Überzeugung eines christlichen Humanismus: Gott selbst zeigt in seiner schmerzhaften Menschwerdung, dass es keine Abkürzungen am organischen Wachstum vorbei gibt – der Geist muss Fleisch werden. Der Mensch muss selbst seine Potentiale entdecken und nutzen lernen. Das kann und darf ihm niemand abnehmen, nicht einmal Gott. Die Eröffnung gleicher Bildungschancen für alle Gruppen der Gesellschaft ist also das zentrale Mittel einer sozialen Reform aus dem Geist der katholischen Soziallehre. Deshalb können wir uns als Christen nicht damit abfinden, dass wir in unserer reichen Gesellschaft noch immer keinen Weg gefunden haben, zu verhindern, dass unzählige Jugendliche aus sogenannten bildungsfernen Gruppen von unserem Bildungssystem nicht oder so spät erreicht werden, dass sie quasi erblich vorgezeichnet als Schulabbrecher von der Teilhabe an Bildung und damit von der Teilhabe am gesellschaftlichem Leben ausgeschlossen sind. Das ist gesellschaftliche Gewalt gegen ganze Gruppen! Liebe Schwester und Brüder, unsere Schulen dürfen nicht  zu Bollwerken verkommen, hinter denen sich das Bildungsbürgertum mit seinen Interessen der Statusbewahrung verschanzt. Wir dürfen uns nicht vom Staat und seinen Rahmensetzungen für Privatschulen in diese Rolle der Bildungsinstitution für Bildungsbürger drängen lassen! Wir sind gefragt, uns einzusetzen, dass in diesem Land weniger von „Bildung“ als zentraler Zukunftsinvestition schwadroniert, sondern endlich angemessen investiert wird. Andere Länder geben deutlich mehr aus für ordentliche, schulische Rahmenbedingungen. Wir brauchen mehr gut ausgebildete und motivierte Lehrer, die wieder Zeit haben für Kinder.

Im Moment bleibt nur zu konstatieren: Kinder und Jugendliche haben keine politische Macht: Das kann man am Haushaltsposten Bildung fast überall ablesen.

Drittens richtet das Martyrium von Nikolaus Groß unseren Blick nach innen in die Kirche: Das Zeugnis der Märtyrer von Plötzensee zeigt eindrücklich, warum christliches Zeugnis nur gelingt, wenn alle, Priester und Laien, aktiv an ihm teilhaben können. Im Widerstand geeint standen dem Wüten des NS Schergen Roland Freisler gegenüber der Protestant Helmuth James von Molke, der Priester und Jesuit Alfred Delp und der Arbeiter und Arbeiterführer Nikolaus Groß. Freisler konnte in diesem Moment nicht mehr einzelne Gruppen als Gegner diffamieren. Er musste selbst feststellen, dass das Christentum an sich mit dem Nationalsozialismus unvereinbar war. Der Grundsatz der katholischen Sozialehre, dass alle Leitungsmacht nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie Menschen nicht entmündigt, sondern zur aktiven Teilhabe und Mitgestaltung des Gemeinwesens befähigt, verlangt seine sittliche Geltung ganz offenbar auch von der Kirche und ihrer Leitung nach innen. Es mag Gründe für das – nennen wir es einmal – „diplomatische“ Auftreten der Kirchenleitungen in Deutschland und in Rom gegenüber den Nazis gegeben haben. Es bleibt festzuhalten: In gewissen Momenten hat die katholische Arbeiterbewegung mit Ihrem konsequenten Auftreten gegen die Machthaber an der Basis ein klareres und entschiedeneres christliches Zeugnis abgelegt. Und deshalb ist die Stärkung der Laiengremien in Deutschland nach dem Krieg eben kein Unfall und keine lästige Ausweitung des deutschen Vereinswesens auf die Kirche. Sie entspringt vielmehr einer Einsicht, die am christlichen Widerstand selbst gereift ist: Keine konfessionelle Spaltung darf das gemeinsame christliche Engagement für eine humane Gesellschaft unterminieren. Und ein glaubhaftes Zeugnis zur Mitgestaltung unserer politischen und sozialen Ordnung kann nur dort bestehen, wo die Kirche alle Kräfte vereint und zu Wort kommen lässt, damit sie kreativ und aktiv am Zeugnis teilhaben können. Nur eine Kirche, die die innere Kommunikation auf Augenhöhe pflegt, die Kritik nicht nur erträgt, sondern eine Kultur der Kritik pflegt und Laien durch Laienräte in die Leitung der Kirche einbezieht, wird die moralische Legitimität und die spirituelle Kraft haben, um die Gesellschaft mit zu gestalten. Wer dahinter zurück will, verspielt in meinen Augen das Erbe des christlichen Widerstandes.

Liebe Schwestern und Brüder, „Wir sind gestorben, damit andere einmal besser leben.“ Das ist ein Geschenk und ein Auftrag an uns. Amen.

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